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15. 02. 2024

Charlotte Aigner: Eine persönliche Reise in die Welt von Kafkas letzten Tagen

1. Postkarte von Kierling aus dem Jahr 1915, mit Blick Richtung Kirche und Kafka Sterbehaus  - © Archiv Charlotte Aigner

Der Studien- und Gedenkraum in Franz Kafkas Sterbehaus in Kierling

2. Inschrift in Goethes Wohnhaus am Frauenplan in Weimar - © Žiga Jereb

Zur 100. Wiederkehr von Kafkas Todestag im Jahr 2024 rückt der beschauliche niederösterreichische Ort Kierling ins Zentrum des allgemeinen Interesses. Es scheint bereits alles über das Leben und die letzten Wochen eines der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts erzählt. Ein persönlicher Besuch lohnt, gerade jetzt.

Ich glaube an die Macht der Orte. (1)

Wenn man das Gebäude des ehemaligen Sanatoriums Dr. Hoffmann in Kierling, heute ein Mietshaus, betritt, fällt der Blick auf das in den Terrazzoboden eingelassene Wort „Salve“. Darauf setzt man als erstes seinen Fuß. Auch einen anderen in der Literaturgeschichte bedeutsamen Ort betritt man über ein in den Boden eingelegtes „Salve“: den Wohnbereich in Johann Wolfgang von Goethes Haus am Frauenplan in Weimar. Kafka besuchte diesen Ort im Sommer 1912 mit Max Brod zusammen. Am 29. Juni berichtete er vom „Anrühren der Mauer“ und notierte:

spürbare Beteiligung unseres ganzen Vorlebens an dem augenblicklichen Eindruck (2)

Was mochte ihm durch den Kopf gegangen sein als er nun das „Salve“ am Eingang des Kierlinger Sanatoriums erblickte?

Sollte von besonderen Orten tatsächlich eine Macht ausgehen? Kafka würde dem wohl zustimmen. Elf Jahre nach seinem Besuch am Frauenplan, im Juli 1923, er war von der Lungentuberkulose schon schwer gezeichnet, begegnete er seiner letzten Weggefährtin Dora Diamant im Seeheilbad Müritz (3) an der Ostsee. Wenige Tage später schrieb er an Robert Klopstock:

Ich glaube an die Macht der Orte oder richtiger an die Ohnmacht der Menschen (4)

Er konnte nicht wissen, dass diese „Ohnmacht“ so schnell ihn selbst ereilen würde. Weniger als ein Jahr später konnte man nichts mehr für ihn tun. Er war austherapiert. Am 3. Juni 1924 gegen Mittag starb er im Sanatorium Dr. Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg, nahe Wien. Noch keine 41 Jahre alt. Dora Diamant und Robert Klopstock waren bei ihm.

Wenn ein Weilchen still ist, bin ich froh. (5)


3. Inschrift am Eingang zu Kafkas Sterbehaus in Kierling - © ÖFKG

Im Treppenhaus des ehemaligen Sanatoriums scheint sich in den vergangenen hundert Jahren nichts verändert zu haben. Die wenigen ersten Stufen steigt man im Licht, das durch die bunten Glasscheiben der alten Flügeltür fällt. Man drängt sich durch die schmale Öffnung. Eng gewunden führen die Treppen in den zweiten Stock. Hinter den gemusterten Milchglasscheiben der Fenster lässt sich der Garten erahnen.  

Findest du nichts hier auf den Gängen, gibt es neue Stockwerke, findest du oben nichts, es ist keine Not. Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts. (6)

Ist man im zweiten Stock angekommen, steht man vor einer alten Bassena, weiß emailliert mit rostigem Abfluss. Die Wand dahinter ist in alter Walzentechnik bedruckt. Daneben eine Tür mit der Aufschrift „Franz Kafka - Studien/Gedenk/Raum“. Durch sie gelangt man in die zwei von der Österreichischen Franz Kafka Gesellschaft 2014 grundlegend neugestalteten Räume. Sie erzählen von Kafkas Zeit in Kierling und versuchen, ihn selbst sprechen zu lassen: 

4. Kierling: Treppenhaus - © ÖFKG

Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe, aber wie mich befreien und sie befreien ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als sie in mir zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar. (7)

5. Artefakt der Unterschrift Franz Kafkas - © ÖFKG
6. Franz Kafkas Studien- und Gedenkraum in Kierling - © ÖFKG
7. FK Gedenkraum: Kehlkopfspritze - © ÖFKG 

Franz Kafka - Studien/Gedenk/Raum  

An den Wänden Bilder, einige wenige Texte, Briefstellen, einzelne Sätze, in der Vitrine eine Kehlkopfspritze, Faksimiles der Arztberichte und der Fieberkurve aus der Klinik in Wien.  

Ein Durchgang führt in den zweiten Raum, der Kafkas Nachleben, seinem Vermächtnis gewidmet ist.

8. FK Gedenkraum: Aufnahmeprotokoll in der Laryngologischen Klinik des Prof. Dr. Hajek in Wien vom 10. April 1925 (Faksimile) - © ÖFKG

Vielleicht werden wir also gar nicht viel entbehren. Josefine aber, erlöst von der irdischen Plage, die aber ihrer Meinung nach Auserwählten bereitet ist, wird fröhlich sich verlieren in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes und bald, da wir keine Geschichte treiben, in gesteigerter Erlösung vergessen sein wie alle ihre Brüder. (8)

9. Am Durchgang zwischen den beiden Räumen - © ÖFKG
10. Abbildung und Auslegung der Inschrift auf Kafkas Grabstein - © ÖFKG

Hier finden sich Nachrufe u.a. von Max Brod und Milena Jesenská sowie die hebräische Grabschrift (9). Über der Mitte des Raumes schwebt ein Schwarm beleuchteter Zettel. Auf einer Vielzahl von Papierblättern sind die - zum großen Teil hier im Haus entstandenen -Gesprächsnotizen Kafkas abgedruckt und mit Drähten an einer Lichtquelle befestigt.

Wir lesen

Ein See mündet doch nicht

oder

Wenns kein Thema gäbe, dann gäbe es Gesprächsstoff

aber auch

Gib mir einen Augenblick die Hand auf die Stirn, damit ich Mut bekomme“ oder „Wie viel Jahre wirst du es aushalten? Wie lange werde ich es aushalten, daß du es aushältst? (10)

11. Bibliothek zur Biografie Franz Kafkas - © ÖFKG

Die große Bibliothek mit verschiedenen Ausgaben von Kafkas Werken, Sekundärliteratur und Übersetzungen in vielen Sprachen scheint Kafkas Vermächtnis greifbarer zu machen. Wer möchte, kann noch auf den Balkon an der Südseite des Hauses treten, in den Garten blicken, den Vögeln zuhören und auf die bewaldeten Hügel schauen. Linker Hand befindet sich das ehemalige Zimmer Kafkas mit Liegebalkon. Es ist mittlerweile als Teil einer Wohnung vermietet. Der Blick verweilt dort nur kurz.

Sehen Sie den Flieder, frischer als ein Morgen (11) 

Was hier vor bald hundert Jahren geschehen ist, lässt sich in seiner Gänze von heute aus nicht mehr erfassen. Aber wir können uns von den Spuren ansprechen lassen und so in unseren eigenen Bezug dazu kommen.  

Die Wochen vor Kafkas Tod waren von intensiver Nähe geprägt. Dora Diamant war stets um ihn, pflegte ihn mit Hingabe und voll verzweifelter Hoffnung. Es war eine Zeit des körperlichen Verfalls und der Schmerzen, aber auch der Liebe, des innigen Zusammenseins.

…dann ist ja alles aussichtslos, von Wundern abgesehen

notiert Kafka auf einem Zettel. Dora Diamant schreibt Anfang Mai an Ottla David

… Habt auch Hoffnung. Seid auch so wie ich, der guten Wendung sicher, dann kann sie auch leichter kommen. Wie kann es denn anders sein? Wie ist es denn möglich? Wie ist es denn denkbar? Mit gesunden Sinnen überhaupt nicht … (12)

12. Gedenkraum: Leuchter mit abgebildeten Gesprächsnotizen Franz Kafkas - © ÖFKG

Kafka wurde so gut es geht abgeschirmt. Dennoch gaben sich eine Reihe namhafter Spezialisten die Klinke in die Hand, freilich ohne wirklich helfen zu können:

Da geht die Hilfe ohne zu helfen weg (13)

notierte Kafka nach einem solchen Arztbesuch. Robert Klopstock traf Anfang Mai ein, um Dora Diamant bei der Pflege zu unterstützen. Es kamen Freunde und auch einige Mitglieder der Familie, darunter Max Brod, Kafkas langjähriger Freund, Ottla David und Elli Hermann, zwei seiner Schwestern.

…er war ein Verlöschender, aber er hat wunderbar ausgeschaut… (14)

Milena Jesenská (15), die zu jener Zeit noch in Wien lebte, scheint ihn auch besucht zu haben. Sie erwähnte 1938, in einem Brief an Willi Schlamm, erstmals, an Kafkas Sterbebett gewesen zu sein. (16) Dies wird durch die Tonbandaufzeichnung der Lebenserinnerungen des Franz Xaver Graf Schaffgotsch aus dem Jahr 1968 (17) bestätigt. An zwei Stellen dieser Aufnahmen berichtet er von einem gemeinsamen Besuch mit Milena Jesenská bei Franz Kafka in Kierling, Anfang Mai 1924. Hier bekommen wir einen der wenigen überlieferten Hinweise darauf, wie Kafka in seinen letzten Wochen ausgesehen haben muss. Über vierzig Jahre später wirkt Schaffgotsch noch immer fasziniert von Kafkas Anblick und erzählt an einer weiteren Stelle:

… der Kafka war dieser mehr orientalische Typ, schmalgliedrig, ein Typ wie Chagall sie gemalt hat, mit großen dunklen Augen, so wie man sie auf Ikonen sieht, ganz von den dunklen Augen beherrscht, natürlich furchtbar abgemagert, aber ein schöner, ein wunderbarer Kopf […] Er war von der Krankheit natürlich schon sehr gezeichnet. Er machte einen wunder… wunderschönen Eindruck. (18)

13. Gedenkraum: Wandgestaltung mit Bildern von Robert Klopstock und Dora Diamant - © ÖFKG

Am Tag vor seinem Tod ging es Kafka „erstaunlich gut“ (19). Er konnte von den Kirschen und Erdbeeren probieren, die Klopstock aus der Stadt gebracht hatte, und schrieb in einem langen Brief an die Eltern:

…alles ist wie gesagt in den besten Anfängen. (20)

 14. Balkon neben dem (wahrscheinlichen) Sterbezimmer - © ÖFKG

Charlotte Aigner wurde 1966 in Freising geboren und lebt seit 1987 in Wien. Sie studierte Soziologie mit Psychologie und Erziehungswissenschaften. Sie arbeitet Psycho- und Lehrtherapeutin (Daseinsanalyse) eigener Praxis. Seit 2014 ist sie im Vorstand der Österreichischen Franz Kafka Gesellschaft und hat u. a. mit Manfred Müller und Michael Balgavy (Design) zusammen das Konzept für die Neugestaltung des Franz Kafka Studien- und Gedenkraums in Kierling erstellt.

(1) Franz Kafka (FK): Brief an Robert Klopstock (RK), Müritz 24. Juli 1923 in FK: Briefe 1902 – 1924 (BR), Hrsg. Max Brod (MB), Fischer TB, 1975, S. 438
(2) FK: Reisetagebuch Weimar-Jungborn, 29. Juni 1912, In: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der kritischen Ausgabe, Hrsg. Hans-Gerd Koch. Fischer TB-Verl. 2008 (GW), S. 83
(3) Heute heißt der Ort Graal-Müritz
(4) FK: Brief an RK, Müritz 24. Juli 1923. In: BR, Fischer TB, 1975, S. 438
(5) FK: Gesprächsblatt. In: Franz Kafka: BR, Hrsg. MB, Fischer TB 1975, S. 488

(6) FK: Fürsprecher; In: Das Ehepaar und andere Schriften aus dem Nachlass; Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der kritischen Ausgabe, Hrsg. Hans-Gerd Koch, Fischer TB-Verl. 2008 (GW), S. 13-15
(7) FK: Tagebücher, 21.6.1913. In: Tagebücher 1912–1914, S. 179
(8) FK: Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse. GW, Drucke zu Lebzeiten, S .350
(9) Übersetzt und ausgelegt von Johannes Reiss, Jüdisches Museum, Eisenstadt
(10) FK: Gesprächsblätter. BR, S. 488, 487, 491 und 487
(11) FK: Gesprächsblätter. BR, S. 488
(12) Briefe an Ottla. Von Franz und anderen. Hrsg. Deutsches Literaturarchiv Marbach, 2011, S. 153f.
(13) FK: Gesprächsblatt. In: FK: BR, Hrsg. MB, Fischer TB, 1975, S. 491
(14) Gespräch von Franz Xaver Graf Schaffgotsch (GS) mit Viktor Suchy, dem Gründer der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur (DST Wien). Die gesamten Gespräche zwischen Suchy und GS fanden zw. 9.2. und 14.51968 statt – das hier zitierte Gespräch ist auf dem Tonband Nr. 150 und müsste am 13.2.1968 stattgefunden haben. Die mittlerweile digitalisierten Aufnahmen befinden in der DST Wien im Tonarchiv.
(15) Milena Jesenská ist die Adressatin Kafkas Briefe an Milena
(16) Alena Wagnerová: Milena Jesenská. Biografie. Fischer TB 2006, S. 158
(17) GS, DST Wien, Tonarchiv
(18) Tonaufnahme GS, 1968, DST Wien/TA, Band 150. Transkription von der Verfasserin
(19) Rotraud Hackermüller: Das Leben, das mich stört. Kafkas letzte Jahre. Medusa Verlag, 1984, S. 148
(20) FK: Brief an die Eltern vom 2.6.1924, zitiert in Reiner Stach: Kafka – Die Jahre der Erkenntnis, S. 614